Medical Influencer:innen: Ein neues Phänomen und seine Bedeutung für die Gesundheitskommunikation
Medical Influencer:innen. Oder: Wenn Gesundheitstipps viral gehen – Chancen und Herausforderungen eines digitalen Wandels.
Medical Influencer:innen. Oder: Wenn Gesundheitstipps viral gehen – Chancen und Herausforderungen eines digitalen Wandels.
Auf TikTok erklärt eine junge Frau im weißen Kittel, wie man mit drei einfachen Hausmitteln die Erkältung über Nacht loswird. 250.000 Views. Auf Instagram teilt ein selbsternannter Wellness-Coach seine „revolutionäre" Morgenroutine für mehr Energie. 15.000 Likes. Auf YouTube verspricht ein Video mit dem Titel "Was Ärzte dir verschweigen" alternative Heilmethoden. Eine Million Aufrufe.
Willkommen in der Welt der Medical Influencer:innen – einem Phänomen, das die Art und Weise, wie Menschen nach Gesundheitsinformationen suchen, fundamental verändert hat. Und das wirft interessante Fragen auf: für die Medizin, für die Gesellschaft – und auch für die Pharmaindustrie.
Die Zahlen sprechen für sich: Studien zeigen, dass über 50 Prozent der unter 30-Jährigen Social Media als primäre Quelle für Gesundheitsinformationen nutzen. Das ist keine vorübergehende Modeerscheinung, sondern ein struktureller Wandel im Informationsverhalten.
Die Gründe dafür sind nachvollziehbar: Social-Media-Content ist schnell verfügbar, niedrigschwellig zugänglich und oft unterhaltsam aufbereitet. Während ein Arzttermin Wochen auf sich warten lässt, liefert TikTok Antworten in Sekunden. Die Inhalte sind in einer Sprache formuliert, die Menschen verstehen – ohne medizinisches Fachwissen vorauszusetzen. Sie wirken persönlich, authentisch, nahbar, die Menschen dahinter überzeugend.
Das Problem: Überzeugung ist nicht zwingend gleichzusetzen mit Kompetenz. Oder anders: Die Qualität der Informationen ist extrem heterogen. Neben seriösen Mediziner:innen, die evidenzbasiert aufklären, tummeln sich zahlreiche selbsternannte Expert:innen, deren Ratschläge von fragwürdig bis gefährlich reichen. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass ein erheblicher Teil der Gesundheitsinhalte auf Plattformen wie TikTok oder Instagram Fehlinformationen enthält oder zumindest irreführend ist. Teilweise entbrennen regelrechte Hoheitsgefechte und die einzig wahre Wahrheit: Influencer:in A macht ein Video, das von B aufgegriffen und kommentiert oder gar zerrissen wird, worauf A wieder reagiert, weshalb B … - Sie ahnen, wie lang wir dieses Spiel nun spielen könnten.
Auf den ersten Blick mag die Welt der Social-Media-Gesundheitstipps weit entfernt scheinen von den regulierten Prozessen der Pharmaindustrie. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich: Das Phänomen hat durchaus Berührungspunkte mit der Branche.
Da wären zum einen die direkten Auswirkungen: Wenn Influencer:innen Nahrungsergänzungsmittel als Alternative zu verschreibungspflichtigen Medikamenten anpreisen oder vor bestimmten Wirkstoffen warnen, beeinflusst das die Therapietreue von Patient:innen. Wenn Impfskepsis viral geht, hat das reale Konsequenzen für Public Health – und für die Akzeptanz pharmazeutischer Innovationen.
Zum anderen verändert sich das Kommunikationsumfeld grundlegend. Die klassischen Kanäle der Gesundheitskommunikation – Printbroschüren, Informationsportale, Aufklärungskampagnen – erreichen bestimmte Zielgruppen schlicht nicht mehr. Das heißt nicht, dass sie überflüssig werden. Aber sie müssen ergänzt werden durch Formate, die dort stattfinden, wo Menschen heute ihre Informationen suchen.
Und schließlich: Die Art und Weise, wie über Gesundheit gesprochen wird, prägt auch die Erwartungen an alle Akteure im Gesundheitswesen. Wenn Patient:innen gewohnt sind, medizinische Informationen in 60-Sekunden-Videos zu konsumieren, steigen auch die Ansprüche an Verständlichkeit und Zugänglichkeit in anderen Kontexten.
Die Herausforderung, die Medical Influencer:innen darstellen, lässt sich nicht mit einer einzelnen Maßnahme lösen. Es braucht verschiedene Ansätze auf unterschiedlichen Ebenen.
Politik und Aufsichtsbehörden sind gefordert, klare Regeln zu schaffen. Wann muss Werbung gekennzeichnet werden? Welche Qualitätsstandards sollten für Gesundheitsinformationen gelten? Wie geht man mit nachweislich falschen oder gefährlichen Inhalten um?
Die Bundesärztekammer hat mit ihrer Handreichung zu „Ärztinnen und Ärzte in sozialen Medien" bereits einen wichtigen Schritt gemacht. Andere Länder experimentieren mit verschiedenen Modellen – von Selbstverpflichtungen der Plattformen bis zu staatlichen Kontrollmechanismen. Der Dialog darüber, welche Regelungen sinnvoll und praktikabel sind, hat gerade erst begonnen.
Auch die Social-Media-Plattformen selbst tragen Verantwortung. Algorithmen könnten so gestaltet werden, dass sie qualitativ hochwertige, evidenzbasierte Inhalte bevorzugen. Kennzeichnungssysteme könnten helfen, seriöse medizinische Fachkräfte von selbsternannten Expert:innen zu unterscheiden. Einige Plattformen haben bereits erste Schritte in diese Richtung unternommen – das Potenzial ist aber noch lange nicht ausgeschöpft. Aber machen wir uns nichts vor: Auch das kann in die Hose gehen, denn selbst seriöse medizinische Fachkräfte verlassen manchmal die Pfade evidenzbasierter Faktenlagen.
Langfristig braucht es eine breitere gesellschaftliche Diskussion über Gesundheitskompetenz im digitalen Zeitalter. Wie erkennt man vertrauenswürdige Quellen? Woran erkennt man Fehlinformationen? Diese Fähigkeiten sollten idealerweise bereits in der Schule vermittelt werden.
Neben diesen übergeordneten und vor allem eher langfristigen Ansätzen gibt es einen Bereich, in dem medizinische Hochschulen, medizinische Fachgesellschaften, aber auch die Pharmaindustrie konkret aktiv werden können: die Förderung und Ausbildung von qualifizierten Medical Influencer:innen aus den Gesundheitsberufen.
Der Gedanke dahinter ist einfach: Wenn Social Media zur wichtigsten Informationsquelle für Gesundheitsthemen wird, dann sollten dort auch die richtigen Expert:innen präsent sein. Ärzt:innen, Apotheker:innen, medizinisches Fachpersonal – Menschen, die sowohl die fachliche Expertise als auch die kommunikativen Fähigkeiten mitbringen, um evidenzbasiert und verständlich aufzuklären.
Es gibt sie bereits: Mediziner:innen, die parallel zu ihrer klinischen Tätigkeit auf Social Media aufklären. Die komplexe Zusammenhänge verständlich erklären. Die mit Mythen aufräumen und dabei authentisch bleiben. Das Problem ist nur: Es sind noch zu wenige. Und sie sind oft auf sich allein gestellt.
Denn Social Media als Kommunikationskanal will gelernt sein. Es reicht nicht, fachlich versiert zu sein. Man muss verstehen, wie die Plattformen funktionieren, wie man Inhalte so aufbereitet, dass sie wahrgenommen werden, wie man mit dem Tempo und der Dynamik der digitalen Kommunikation umgeht. Und man muss lernen, dabei gleichzeitig den hohen Standards evidenzbasierter Medizin treu zu bleiben.
Diese Kompetenzen werden bisher weder im Medizinstudium noch in der Weiterbildung systematisch vermittelt. Wer als Ärztin oder Arzt auf Social Media aktiv werden möchte, muss sich diese Fähigkeiten in der Regel selbst aneignen – neben einem ohnehin fordernden Arbeitsalltag.
Hier könnte die Pharmaindustrie ansetzen – nicht als direkter Content-Produzent, sondern als Enabler. Einige Ideen:
Weiterbildungsprogramme: Workshops und Seminare, die Gesundheitsprofis die Grundlagen der Social-Media-Kommunikation vermitteln. Wie produziert man ein gutes Video? Wie strukturiert man komplexe Inhalte für kurze Formate? Wie geht man mit kritischen Kommentaren um?
Mentoring-Netzwerke: Plattformen, auf denen sich angehende und etablierte Medical Influencer:innen austauschen können. Von den Erfahrungen anderer zu lernen, ist oft wertvoller als jedes Lehrbuch.
Technische Unterstützung: Professionelle Content-Produktion erfordert Know-how und Ausrüstung. Hier könnte niederschwellige Unterstützung angeboten werden – von Equipment-Verleih bis zu Produktionsworkshops.
Rechtliche und regulatorische Beratung: Die berufsrechtlichen Rahmenbedingungen für Ärzt:innen in sozialen Medien sind komplex. Unterstützung bei der Navigation durch diese Regelungen würde vielen die Hemmschwelle nehmen.
Motivierende Impulse: Viele junge Mediziner:innen hätten prinzipiell Interesse an Social-Media-Kommunikation, wissen aber nicht, wie sie anfangen sollen – oder ob sich der Aufwand lohnt. Hier können inspirierende Beispiele, Best Practices und der Austausch mit Pionier:innen helfen.
Ein wichtiger Aspekt dabei: Die erfolgreichsten Medical Influencer:innen sind nicht die mit dem höchsten Produktionsbudget, sondern die authentischsten. Menschen schätzen es, wenn Ärzt:innen zugeben, dass auch sie nicht auf alles eine Antwort haben. Wenn sie zeigen, wie ihr Arbeitsalltag wirklich aussieht. Wenn sie Unsicherheiten benennen statt zu übertünchen.
Das ist gleichzeitig die größte Stärke gegenüber selbsternannten Gesundheitsgurus: Echte Expert:innen können es sich leisten, differenziert zu sein. Sie müssen keine simplen Antworten auf komplexe Fragen liefern. Sie dürfen sagen: „Das kommt auf den Einzelfall an." Und genau das macht sie langfristig glaubwürdig.
Ein Ansatz, der genau diese verschiedenen Elemente zusammenführt, sind strukturierte Förderprogramme wie das Young Lions Konzept der SDMED. Die Grundidee ist dabei denkbar einfach: Junge Talente aus dem Gesundheitswesen frühzeitig identifizieren, gezielt fördern und langfristig aufbauen.
Was solche Programme von klassischen Fortbildungen unterscheidet: Es geht nicht nur um die reine Wissensvermittlung, sondern um die ganzheitliche Entwicklung von Skills, die für moderne Gesundheitskommunikation relevant sind. Das umfasst die Fähigkeit, komplexe Inhalte zielgruppengerecht aufzubereiten, Studien kritisch zu lesen und zu bewerten, aber auch die Kompetenz, wissenschaftliche Erkenntnisse verständlich zu kommunizieren – ob im Hörsaal, auf Kongressen oder eben auf Social Media.
Der Charme solcher strukturierter Programme liegt in ihrer Praxisnähe: In kleinen Gruppen und im Rahmen von Mentoring können individuelle Stärken gezielt gefördert werden. Durch Workshops, Hands-On-Übungen und den Austausch mit erfahrenen Kolleg:innen entsteht ein Lernumfeld, in dem junge Mediziner:innen nicht nur theoretisches Wissen erwerben, sondern auch konkrete Kommunikationskonzepte entwickeln und ausprobieren können.
Ein weiterer Vorteil: Solche Programme schaffen Netzwerke. Die Teilnehmenden lernen voneinander, tauschen sich aus, inspirieren sich gegenseitig. Und sie sehen, dass sie mit ihrem Interesse an moderner Wissenschaftskommunikation nicht allein sind. Das kann ungemein motivierend wirken – gerade für diejenigen, die in ihrem direkten Arbeitsumfeld möglicherweise noch auf Skepsis gegenüber Social-Media-Aktivitäten stoßen.
Unsere Erfahrungen mit solchen Formaten zeigen: Es gibt ein enormes Interesse bei jungen Ärzt:innen und anderen Gesundheitsprofis, sich in diesem Bereich weiterzuentwickeln. Was oft fehlt, sind nicht die Motivation oder das Talent, sondern schlicht die richtigen Rahmenbedingungen und Unterstützungsstrukturen.
Die Förderung qualifizierter Medical Influencer:innen ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Es geht nicht darum, mit einer einzelnen Kampagne oder einem Förderprogramm das Problem zu lösen. Es geht darum, nachhaltige Strukturen aufzubauen, die langfristig dazu beitragen, dass evidenzbasierte Gesundheitsinformation auf Social Media präsenter wird.
Das liegt im Interesse aller Beteiligten: Der Patient:innen, die verlässliche Informationen brauchen. Der Gesundheitsprofis, die ihr Wissen weitergeben möchten. Der Plattformen, die Verantwortung für ihre Inhalte übernehmen müssen. Und auch der Pharmaindustrie, die in einem sich verändernden Kommunikationsumfeld neue Wege finden muss, um Menschen zu erreichen.
Medical Influencer:innen sind gekommen, um zu bleiben. Die Frage ist nicht, ob wir dieses Phänomen gut finden oder nicht. Die Frage ist, wie wir damit umgehen – und wie wir sicherstellen können, dass dabei die Qualität der Gesundheitsinformation nicht auf der Strecke bleibt.
Die Investition in die Ausbildung und Förderung von Nachwuchskräften aus den Gesundheitsberufen ist dabei ein Baustein unter vielen. Aber ein wichtiger. Und einer, bei dem die Pharmaindustrie einen echten Beitrag leisten kann.
Wenn Sie Interesse an Formaten wie den Young Lions haben oder ganz eigene Ideen haben, dann melden Sie sich bei uns. Wir freuen uns auf den Austausch und Ihre Projekte!
von Maksymiv Iurii
Der Blog der SDMED bietet aktuelle, informative Artikel aus dem Gesundheitsmarkt und der Pharmaindustrie.
Aktuelle Heft der im Dialog als PDF und E-Book